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Tuesday, August 11, 2020

Die Hitze-Falle | Zukunft - fr.de

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  • Joachim Wille

    vonJoachim Wille

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Extreme Temperaturen machen den Menschen das Leben schwer: Sie gefährden die Gesundheit, vernichten Ernten und verwandeln Städte in Glutöfen. Welche Auswirkungen der Klimawandel auf uns haben wird.

Bezirk Gaya, Bundesstaat Bihar, Nordindien. Es ist Anfang Juni 2019. Eine Wahnsinns-Hitzewelle hat die Region erfasst, in der laut Überlieferung Gautama Buddha im sechsten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung am Ufer des Neranjara-Flusses Erleuchtung erlangte. Die Behörden haben eine Ausgangssperre verhängt. Die Menschen dürfen nur in Notfällen das Haus verlassen. Bauarbeiten sind während der Mittagszeit verboten. Jede Tätigkeit außerhalb klimatisierter Räume ist eine Qual. Das Leben draußen steht komplett still.

Das Klima in Indien ist ohnehin sehr warm. Der Temperatur beträgt im Jahresdurchschnitt rund 27,5 Grad Celsius, selbst der Winter – Januar bis März – bringt es im Mittel auf gut 22 Grad. Zum Vergleich: In Deutschland liegt die Jahresmitteltemperatur bei 10,3 Grad. Die Menschen im tropischen Indien sind also Hitze gewöhnt. Doch die Hitzewelle 2019 bringt auch hier viele ans Limit. Tage mit Temperaturen von über 40 Grad werden vom indischen Wetterdienst als „extrem heiß“ eingestuft. Davon gibt es in diesem Jahr 32, nur einen weniger als 1998, jenem Jahr, in dem die bisher längste Hitzeperiode Indiens registriert wurde.

Eine bedrohliche Lage. In der Hauptstadt Neu-Delhi wird voriges Jahr mit 48 Grad der bisherige Temperaturrekord für den Monat Juni getoppt. Noch heißer ist es in Churu, einer Großstadt im Nordwest-Bundesstaat Rajasthan. Die dort gemessenen 50,8 Grad liegen ganz nah am absoluten Temperaturrekord im Land von 51 Grad, registriert während einer Hitzewelle drei Jahre zuvor.

Friederike Otto.

© Privat

Für Anup Kumar Srivastava handelte es sich 2019 um „die schlimmste Hitzewelle aller Zeiten“ auf dem indischen Subkontinent. Es traf 23 der insgesamt 29 Bundesstaaten, so der Experte von der indischen Katastrophenschutzbehörde in Neu-Delhi, vor allem im Norden und in der Mitte Indiens mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern. Ein Novum: Frühere Hitzewellen hatten meist in deutlich weniger Bundesstaaten geherrscht, diesmal war der Großteil des Landes betroffen. Ursache war ein verspäteter Monsun. Er traf dann am 6. Juni in Kerala im Süden des Landes und am 12. Juni in Neu-Delhi im Norden ein, begleitet von Sturzfluten und Sandstürmen.

Offizielle Schätzungen besagen, dass in Indien seit 1992 rund 25 000 Menschen an Hitzefolgen gestorben sind; tatsächlich dürften die Zahlen weit höher liegen. Auch die 2019er Hitzewelle verlief für Hunderte Menschen tödlich. Im besonders betroffenen Bundesstaat Bihar allein wurden fast 200 Tote gemeldet. Bei vielen weiteren Menschen wurden Hitzschlag oder Kreislaufprobleme diagnostiziert.

Dass die Bilanz im vorigen Jahr nicht noch dramatischer ausfiel, war eine Folge verbesserter Vorsorge. In vielen Regionen haben Indiens Behörden in den letzten Jahren aufgrund steigender Zahlen von Hitzeopfern damit begonnen, Entlastung zu schaffen. Dazu zählte die kostenlose Abgabe von Trinkwasser an die Bürger, die frühere Öffnung von öffentlichen Gärten, um einen Aufenthalt im Schatten zu ermöglichen, Schulungen für Ärzte und Pfleger in Krankenhäusern für Hitzschlag und andere Folgen hoher Temperaturen sowie Hitzefrei in den Schulen. Die nationale Katastrophenschutz-Behörde hat sogar das Ziel ausgegeben, die Zahl der Hitzetoten auf null zu senken – trotz weiter ansteigender Temperaturen.

Wie realistisch das ist, steht auf einem anderen Blatt. Denn der bisher ungebremste Klimawandel heizt nicht nur Indien als Land mit der weltweit zweitgrößten Bevölkerung gewaltig ein, sondern auch vielen anderen Regionen der Welt. Die Landfläche auf dem Globus, die von extrem heißen Sommern betroffen ist, hat seit 1950 bereits deutlich zugenommen. Wie gefährlich die Lage zu werden droht, zeigte unlängst eine Studie von internationalen Klimaexperten auf. Das Szenario: Falls die globalen Treibhausgas-Emissionen so weiter wachsen wie bisher, wird in 50 Jahren im Extremfall ein Drittel der bis dahin auf über zehn Milliarden Menschen angestiegenen Weltbevölkerung in Regionen mit extremer Hitze leben. Betroffen wären bis zu 3,5 Milliarden Menschen.

Die Forscher stellten sich für ihre Untersuchung die Frage: In welchem Temperaturfenster liegt die „ökologische Nische“ des Menschen? Sie glichen die bevorzugten Siedlungsgebiete mit den klimatischen Bedingungen in diesen Regionen ab. Es zeigte sich: Am höchsten ist die Bevölkerungsdichte bei Jahresdurchschnittstemperaturen zwischen elf und 15 Grad, gefolgt von einem weiteren, kleineren „Peak“ bei 20 bis 25 Grad. Diese Verteilung hat sich laut der Studie in den vergangenen 6000 Jahren – also seit Bildung erster größerer Städte in Mesopotamien im heutigen Irak und Syrien – nicht verändert. Hauptautor Marten Scheffer von der Universität im niederländischen Wageningen spricht hier von einer „erstaunlichen Konstanz“ – trotz all der technologischen und kulturellen Veränderungen. Das heißt angesichts des Klimawandels, der derzeit eine globale Erwärmung um 0,2 Grad pro Jahrzehnt bewirkt: Die ökologische Nische verschiebt sich räumlich – in Richtung der kühleren Pole. In immer mehr Gebieten auf der Erde drohen Hitzewellen, die das Leben dort gefährden – oder zumindest immer weniger erträglich machen.

Die Experten um Scheffer gingen in ihrer Studie von einer starken Erderwärmung aus. Sie berechneten, was passiert, wenn es die Weltgemeinschaft künftig wie in den vergangenen drei Jahrzehnten trotz der Klimaverträge von Rio 1992, Kyoto 1997 und Paris 2015 nicht schafft, den globalen Treibhausgas-Ausstoß abzusenken und fossile Energieträger weiter ungebremst verfeuert. Sie folgen damit dem obersten Emissionsszenario aus dem aktuellen Sachstandsbericht des Weltklimarats IPCC (Kürzel: RCP8.5). Bis 2100 würde der Globus sich danach im Durchschnitt um bis zu 4,8 Grad gegenüber vorindustrieller Zeit aufheizen. Das wäre dramatisch. Zur Erläuterung: Eine Spanne von fünf Grad bei der globalen Mitteltemperatur beschreibt den Unterschied zwischen einer Eiszeit und einer Warmzeit, in der wir derzeit leben. Nur, dass die fünf Grad nun auf die Warmzeit aufgesattelt würden. Aus der Warmzeit mit ihrem seit rund 10 000 Jahren relativ stabilen Klima, in der sich die menschliche Zivilisation entwickelt hat, würde eine verheerende „Heißzeit“.

Bisher machen die Gebiete mit einer sehr großen Hitzebelastung – die Studie definiert sie mit einer mittleren Jahrestemperatur von 29 Grad und mehr – nur rund 0,8 Prozent der Landfläche der Erde aus. Es sind Areale, die vor allem in der Sahara liegen und kaum bewohnt sind. Im Szenario der Studie dehnen sie sich bis 2070 auf 19 Prozent aus, also fast ein Fünftel der Fläche. Darunter zählten dann große Gebiete vor allem in Südamerika, Afrika, Südostasien und Australien. Indien wäre hierbei besonders betroffen, denn dort würde mehr als eine Milliarde Menschen in Hitzegebieten leben. Andere „Hotspots“ wären die Länder Nigeria, Sudan, Indonesien und Pakistan mit jeweils mehr als 100 Millionen Menschen.

Das Modell von Scheffer und Co. ergab: Pro einem Grad Anstieg der globalen Mitteltemperatur nimmt die Zahl der Menschen, die in Hitzegebieten leben würden, um eine Milliarde zu. Aktuell liegt die Temperatur rund 1,1 Grad über dem Wert in vorindustrieller Zeit. Das heißt: Selbst wenn es gelingt, die Erwärmung auf 1,5 bis zwei Grad zu begrenzen, wie es das Paris-Abkommen vorsieht, wären in diesem Jahrhundert trotzdem mehrere hundert Millionen Menschen betroffen. Krisen, Hungersnöte und Flüchtlingsströme könnten bereits in diesem Fall deutlich anwachsen, wären aber bei weitem nicht so dramatisch wie in der Plus-Fünf-Grad-Welt. Doch dazu müssten die Treibhausgas-Emissionen praktisch ab sofort deutlich sinken. Das gelingt nur, wenn die Länder der Erde ihre CO2-Ziele drastisch verschärfen und zudem die Post-Corona-Konjunkturprogramme so gestaltet werden, dass die Energiewende weltweit einen Schub erhält und das fossile Zeitalter binnen der nächsten ein, zwei Jahrzehnte beendet wird. Derzeit steuern die Regierungen der rund 200 Staaten der Welt mit den vorliegenden Klimaschutz-Plänen hingegen einen Drei- bis Vier-Grad-Kurs.

Hitze ist allerdings nicht nur für die Länder im Süden, sondern auch für die in den gemäßigten Breiten ein Thema. Der Doyen der deutschen Klimawissenschaft und frühere Direktor des Weltklimaforschungsprogramms der Welt-Meteorologie-Organisation, Professor Hartmut Graßl, erwartete in den 1990er Jahren, dass etwa ab 2000 die Klimaveränderungen auch konkret für den Normalbürger spürbar sein würden – etwa durch mehr und stärkere Hitzewellen. Genau das trat ein.

Einen Vorgeschmack auf künftige „Megasommer“ gab den Europäern das Jahr 2003, gefolgt von weiteren Ausnahmesommern – bis zuletzt 2018 und 2019. Anno 2003 heizte das Dauerhoch „Michaela“ den Menschen ein. Im August besagten Jahres stiegen die Temperaturen auf bis zu 47,5 Grad (in Portugal). Wälder brannten, Flüsse schwanden zu Rinnsalen, Ernten verdorrten auf den Feldern. Medial zum „Märchensommer“ hochstilisiert, in dem man sich selbst im sonst unterkühlten Hamburg wie in den Tropen fühlte und Bier- und Eisverkäufer Rekordumsätze machten, handelte es sich tatsächlich um eine der größten Naturkatastrophen in der Geschichte des Kontinents. Laut Studien gab es bis zu 70 000 vorzeitige Todesfälle, davon 7000 in Deutschland – vor allem unter Älteren und gesundheitlich angeschlagenen Menschen. Die materiellen Schäden beliefen sich nach Schätzungen EU-weit auf über zehn Milliarden Euro.

Aktiv werden

BÜRGER:INNEN Bürger sollten, erstens, ihren CO2-Fußabdruck verringern: Fahrrad oder Bus und Bahn statt Auto nehmen; Haus dämmen, sich an Solaranlagen beteiligen, weniger Fleisch essen, Flugreisen einschränken, ökologisch ausgerichtete Parteien wählen. Und, zweitens, das richtige Verhalten bei Hitzewellen einüben: Siesta machen, viel trinken, leichter essen.

POLITIKER:INNEN Die Politik muss sich auch in der Praxis an dem Pariser Klimazielen orientieren. Das heißt: Kohleausstieg auf 2030 vorziehen, 100 Prozent Öko-Energien bis 2040, Turbo für die Verkehrswende, Push für Öko-Landbau. Häuser müssen klimafit gemacht und Städte umgebaut werden, um Hitzeinseln zu entschärfen.

UNTERNEHMER:INNEN Es darf nicht mehr nur darum gehen, Umsatz und Profit zu maximieren, Unternehmen müssen auch den CO2-Ausstoß senken. Stichworte: mehr Energieeffizienz, Ökostrom, E-Mobilität. Und sie müssen das Arbeiten bei Hitzewellen erträglich machen: Trinkwasser anbieten, mehr Pausen, mehr Homeoffice, Verlegung der Arbeitszeiten.

WEITERLESEN: Friederike Ottos Buch „Wütendes Wetter – Auf der Suche nach den Schuldigen für Hitzewellen, Hochwasser und Stürme“ ist gerade bei Ullstein erschienen.

Besonders hart war Frankreich betroffen. Dort und in Italien brach das Gesundheitssystem zusammen. Als die Temperaturen Mitte August Richtung 40 Grad gingen, kippten an einem Tag allein in Paris 40 Menschen leblos um. Krankenhäuser waren völlig überlastet, es fehlte dort an Betten, Hitzeopfer wurden in Gängen notdürftig versorgt. Auf einem Großmarkt im Süden von Paris wurde ein großes Lebensmittel-Kühllager zur Leichenhalle umfunktioniert.

Das war ein unüberhörbarer Warnschuss. Denn dass die Hitzeereignisse sich auch in Europa häufen würden, war nach den Erkenntnissen der Klimaforschung schon damals sicher. Inzwischen hat die vom Menschen verursachte globale Erwärmung die Wahrscheinlichkeit bereits mindestens verdoppelt, dass es hier zu extremen Hitzewellen oder langen Trockenperioden kommt, wie sie 2018 und 2019 verzeichnet wurden. „Inzwischen spielt der Klimawandel bei jeder Hitzewelle, die wir in Europa haben, eine Rolle“, sagt die Wissenschaftlerin Friederike Otto von der Universität Oxford. Sie ist führende Expertin in einem Zweig der Klimaforschung, der sich „Attribution Science“ (Zuordnungswissenschaft) nennt. Hier wird analysiert, welchen Anteil die globale Erwärmung an extremen Wetterereignissen hat.

Regionale Klimamodelle für Europa sagen für den Fall weiter hoher Emissionen voraus: Die Sommertemperaturen steigen bis Ende des Jahrhunderts im Schnitt um drei bis fünf Grad, und Mitteleuropa hat dann ein Mittelmeer-Klima. Jeder zweite Sommer könnte 2100 ein „Jahrhundertsommer“ wie die von 2003 und 2018 sein. Andere Untersuchungen kamen gar zu dem Schluss, dass ein solcher Sommer dann sogar als vergleichsweise kühl eingestuft werden müsste. Gerade auch die Bundesrepublik wäre betroffen: Wird dem Globus weiter wie bisher eingeheizt, muss in Norddeutschland Ende des Jahrhunderts jährlich mit bis zu fünf zusätzlichen Hitzewellen und in Süddeutschland sogar mit bis zu 30 gerechnet werden. Das zeigt der Forschungsbericht „The Lancet Countdown on Health an Climate Change“ des renommierten medizinischen Fachjournals „The Lancet“, erschienen im Herbst 2019.

Gefährlich sind vermehrte Hitzewellen rund um den Globus für den Menschen vor allem aus zwei Gründen. Einfach gesagt: Es geht um die Gesundheit und um die Ernährung. Hitze kann, erstens, den menschlichen Organismus direkt gefährden – bis zum Tod. Und, zweitens, sie stellt ein großes Risiko für die globale Nahrungsmittelversorgung dar. Dagegen ist der ebenfalls drohende generelle Rückgang der Wirtschaftsleistung fast sekundär – verursacht durch Phänomene wie Arbeitsstopp auf dem Bau, gedrosselte Kraftwerke an Flüssen mit Niedrigwasser oder sinkende Umsätze im Einzelhandel.

Der medizinische Hitzestress ist vor allem für ältere und geschwächte Personen ein akutes Risiko. Stichworte: Hitzschlag, Herzinfarkt, Nierenversagen aufgrund von Flüssigkeitsmangel. Doch auch jüngere und gesunde Menschen sind gefährdet. Die Zahl der Tropennächte, in denen die Temperatur nicht mehr unter 20 Grad sinkt, nimmt auch hierzulande spürbar zu. Zudem breiten sich neue Infektionskrankheiten wie Dengue, Zika und Chiungunya aufgrund des Klimawandels aus, und gerade in Hitzesommern können Blaualgen und Vibrio-Bakterien Gesundheitsprobleme verursachen, die sich bei höheren Temperaturen in Seen und in der Ostsee ausbreiten. Nichts wird es dann mit der beim Baden erhofften Abkühlung.

Bundesärztekammer-Präsident Klaus Reinhardt warnt: Die gesundheitlichen Auswirkungen des Klimawandels würden „nicht irgendwann in weit entfernten Weltgegenden spürbar, sondern hier und heute“. Die Politik müsse Rahmenbedingungen schaffen, um Risiken für die Gesundheit zu minimieren. Er fordert einen „nationalen Hitzeschutzplan“ und konkrete Maßnahmenpläne für Kliniken, Pflegeeinrichtungen sowie Not- und Rettungsdienste zur Vorbereitung auf Hitzeereignisse. Zwar ist etwa in Krankenhäusern und Heimen das Bewusstsein gestiegen, dadurch waren bei den jüngsten Hitzesommern deutlich weniger Opfer zu beklagen als 2003. Doch die Corona-Krise hat die Prioritäten erneut verschoben, nicht auszuschließen, dass das Hitze-Management unter die Räder kommt.

Aber auch für die globale Ernährungslage könnte es kritisch werden. Vor allem Hitzewellen und Dürren, aber auch Sandstürme, starke Regenfälle und die Erosion von Böden schädigen und verkleinern die landwirtschaftlichen Nutzflächen zunehmend, so ein Sonderbericht des Weltklimarates zu Klimawandel und Landnutzung aus dem vorigen Jahr. Der Druck auf die Lebensmittelversorgung wird danach besonders drastisch in armen Ländern in Afrika, Asien, der Karibik und Lateinamerika zu spüren sein. Schon heute leben bereits 500 Millionen Menschen in Regionen, in denen sich Wüsten ausbreiten.

Ein weiteres Problem: Es steigt das Risiko, dass große, für die globale Landwirtschaft zentrale Regionen gleichzeitig von Hitze betroffen werden. Ursache sind Veränderungen in der Dynamik des Jetstream, eines den Globus umspannenden Höhenwinds, der die Bewegungen von Hochs und Tiefs steuert. Hitzewellen könnten parallel in Weltregionen auftreten, die zusammen für ein Viertel der globalen Nahrungsmittelproduktion verantwortlich sind. Besonders anfällig hierfür sind der Westen Nordamerikas und Russlands, Westeuropa und die Ukraine. Das sind die Kornkammern der Erde.

„Normalerweise geht man davon aus, dass geringe Ernteerträge in der einen Region durch gute Ernteerträge in einer anderen Region ausgeglichen werden“, erläutert Dim Coumou vom Institut für Umweltstudien der Freien Universität Amsterdam, der diese Zusammenhänge erforscht hat. Die immer öfter auftretenden veränderten atmosphärischen Wellenmuster, die Hitzegebiete und Dürren an einem Ort festhalten, könnten in Zukunft zu Ernteeinbußen in mehreren der Kornkammern gleichzeitig führen – mit entsprechenden Risiken für die globale Nahrungsmittelversorgung. Knappheiten und Preissteigerungen treffen dadurch unter Umständen auch Regionen, die von der Extremhitze nicht betroffen sind. Bei der schweren Hitzewelle in Russland 2010, die im Land nach Schätzung rund 55 000 Opfer forderte und 25 Prozent der Ernte vernichtete, war das bereits der Fall. Moskau stellte damals den Export von Weizen komplett ein, was die Weltmarktpreise steigen ließ. Folgen hatte das zum Beispiel in Pakistan, einem der Hauptimporteure von russischem Weizen. Dort kostete das Getreide plötzlich im Schnitt 16 Prozent mehr – das traf vor allem ohnehin arme Bevölkerungsschichten.

Ob die Probleme beherrschbar bleiben, hängt davon ab, wie stark die CO2-Konzentration in der Atmosphäre noch ansteigt. Doch Klimaforscher Graßl warnt: „Auch wenn Klimapolitik erfolgreich sein wird, werden Hitzewellen ein wesentlicher Teil der Last für uns Menschen und die Landwirtschaft sein.“

Das alles zeigt: Die Herausforderungen in einer heißeren Welt für acht, zehn oder sogar elf Milliarden Menschen sind immens. Großstädte und Ballungsräume müssen umgebaut werden, um diese Hitzeinseln zu entschärfen – durch schattenspendende Bäume, Fassaden- und Dachbegrünung, neue Parks, die als Frischluftzonen dienen. Häuser müssen klimafit gemacht werden – mit automatischen Verschattungssystemen vor den Fenstern, hellen Farben auf Dächern, die die Sonneneinstrahlung reflektieren, besserer Dämmung. Das Gesundheitssystem muss für Hitzewellen ausgerüstet werden, die Landwirtschaft auf hitzetolerantere Pflanzenarten und Pflanzengemeinschaften umsteigen, die Arbeitswelt flexibler gestaltet werden – mit mehr Pausen, mehr Homeoffice und Verlegung der Arbeitszeiten.

Und natürlich wird, wer es sich leisten kann, versuchen, sich auch individuell bessere Lebensverhältnisse zu verschaffen, wenn die Hitze da, wo er lebt, unerträglich wird. Es ist jedenfalls kein Wunder, dass die Zahl der Klimaflüchtlinge genauso wie die der Klimaanlagen in den nächsten Jahrzehnten stark ansteigen wird. So erwartet die Weltbank, dass aus den derzeit geschätzt rund 20 Millionen Umwelt- und Klimamigranten bis 2050 bis zu 143 Millionen werden könnten, ein Großteil davon vor allem aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara und südasiatischen Ländern, weil Ernten wegen Dürren ausbleiben und Lebensräume zerstört werden.

Die Zahl der Klimaanlagen und -geräte wiederum, die Gebäude und Verkehrsmittel herunterkühlen und im zunehmenden Hitzestress so zumindest zeitweise Entlastung schaffen, dürfte sich bis Mitte des Jahrhunderts weltweit vervierfachen, wie britische Forscher von der Universität Birmingham prognostizieren – von derzeit 3,6 auf 14 Milliarden Einheiten. Der US-amerikanische Standard, dort sind rund 80 Prozent der Gebäude mit Klimatisierung ausgerüstet, würde damit globalisiert.

Rechnerisch werden gemäß dieser Prognose Mitte des Jahrhunderts tatsächlich jedem Menschen auf der Erde ein bis zwei Klimageräte zur Verfügung stehen. So gesehen, könnte sich jeder – genügend verfügbare Energie vorausgesetzt – auf einem überhitzten Planeten zu Hause seine Wohlfühltemperatur einstellen. Nur: Eine echte Lösung für das Problem des Klimawandels wäre das nicht. Denn ohne CO2-Einsparung droht dann doch die Heißzeit mit einem Temperaturplus von fünf, sechs oder langfristig noch mehr Grad, die große Teile der Erde nachhaltig unbewohnbar machen würde. Die Flucht in eine kühle Technowelt könnte allenfalls noch für eine auf Bruchteile geschrumpfte Welt-Restbevölkerung funktionieren. Zuletzt gab es ein solches Temperaturniveau auf der Erde vor 56 Millionen Jahren, am Übergang von Paläozän zum Eozän.




August 11, 2020 at 09:18AM
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